Mitte Oktober 2020 tauschten sich Handels-Experten an einem virtuellen Presse-Round-Table aus, und zwar zum Thema «Gegenwart und Zukunft des stationären Einzelhandels in Krisenzeiten: Kaufimpulse gezielt setzen». Die Teilnehmer der Diskussionsrunde, die Corona-bedingt per Video-Konferenzschaltung stattfand, waren:
- Christian Schmidt, Handelsexperte bei der GfK, dem grössten deutschen Marktforschungsinstitut
- Stefan Schieker, Partner bei invidis Consulting GmbH, der führenden Digital Signage Beratung in der Region EMEA
- Markus Otto, Business Development Manager bei Visplay
- Ralph Siegfried, Business Development Manager im Bereich Retail bei Axis Communications
- Moderation: Marco Atzberger, Mitglied der Geschäftsleitung des EHI Retail Institutes
Die Diskussionsrunde eröffnete Moderator Marco Atzberger mit der Frage, welche Auswirkungen die Krise auf das Kaufverhalten der Deutschen habe.
Christian Schmidt: «Die GfK teilt die Corona-Krise aktuell in drei grosse Phasen ein: die Panikphase, die Adaptionsphase und die Normalisierungsphase, das «New Normal». Zu Beginn der Pandemie, als Panik die Situation beherrschte, waren vor allem die Hamsterkäufe im Fast Moving Consumer Goods (FMCG)-Bereich aus Datensicht besonders auffällig. Die Sicherstellung der eigenen Versorgung stand bei den Konsumenten im März an oberster Stelle. Dies führte zu einem deutlichen zweistelligen Umsatzwachstum im Lebenmittel-Einzelhandel (LEH). In der zweiten Phase, der Adaptionsphase, herrschte die grösste Unsicherheit unter den Konsumenten. Das Konsumklima rauschte folglich in den Keller – im Mai auf minus 23 Indikatorpunkte, nachdem der Index in den letzten zehn Jahren stetig gestiegen war. Die Stimmung hat sich anschliessend etwas aufgehellt. Seit Juni befindet sich Deutschland in einem «neuen» Normalzustand. Allerdings zeigt dieses Modell auch, dass sich die Stimmung seit September wieder etwas eintrübt und in der Kalenderwoche 41 beispielsweise die Kategorie Toilettenpapier wieder um 20 Prozent gewachsen ist. Es ist demnach durchaus möglich, dass die Glockenform der Konsumkurve, von der das Marktforschungsinstitut GfK bisher ausging, sich in Zukunft, basierend auf den Infektionszahlen, wiederholen wird.»
Gewinner und Verlierer
Geht man in eine detaillierte Analyse, zeigt sich, dass jede Krise Gewinner und Verlierer hat. Zu den «Gewinnerbranchen» der Krise zählt einerseits der LEH, mit fast durchgehend zweistelligen Wachstumsraten in den letzten Monaten (im Bereich des privaten Inhome-Konsums). Auch die Kategorien Spielekonsolen (+19 Prozent), Gartenbewässerung (+26 Prozent), E-Bikes (+28 Prozent), Malerbedarf (+31 Prozent) und Sanitätsbedarf (+101 Prozent) haben zwischen der Kalenderwoche 11 und Kalenderwoche 24 stark zugelegt. Auch wenn einige Warengruppen im Non-Food-Handel gewachsen sind, haben viele Warengruppen aufgrund der Krise stark eingebüsst: Vor allem Echtschmuck (-36 Prozent), Sport/Badebekleidung (-42 Prozent), Koffer/Reisetaschen (-60 Prozent) und Anzüge/Sakkos (-74 Prozent) sind zwischen Kalenderwoche 11 und Kalenderwoche 24 stark eingebrochen. Seit dem Beginn des «New Normal» sieht die GfK auch, dass Einkäufe zwar nachgeholt werden, allerdings gleicht dieser «Nachholeffekt» nicht den Verlust der Lockdown-Phase aus. Das wird auch an den Besucherfrequenzen deutlich. Sowohl im Fachmarkt, in der Innenstadt und im Shoppingcenter liegen die Besuchsfrequenzen, auf Basis von Geolocation-Daten, unter dem Niveau der Vor-Corona-Zeiten. Die Innenstädte der deutschen Grossstädte regenerieren sich laut dieser Daten am schlechtesten. Die Besucherzahlen für Berlin, München oder Köln lagen im September 2020 bei circa 80 Prozent des Normalniveaus. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass einerseits weniger Umsatz im Non-Food-Handel erreicht wird und andererseits auch weniger Kaufpotenzial herrscht, da weniger Besucher zu den Einzelhändlern gelangen.»
Markus Otto: «Wir erkennen ähnliche Entwicklungen auf unserer Seite. Die ersten Themen der Händler zu Beginn der Krise waren aufgrund der Situation Existenzängste und die Frage, wie man Bestehendes retten kann. Momentan registrieren wir durchaus andere Themen als zuvor: Flexibilität und Modularität der Ladenfläche haben an Wichtigkeit gewonnen, denn es ist für viele Händler oder Flächenbesitzer heute nicht mehr klar, wie eine Fläche morgen genutzt werden kann. Und doch muss der Händler nachhaltig und zukunftsorientiert planen. Wir sehen das beispielsweise in einem Hotelprojekt in Berlin, bei dem der Hotelier überlegt, wie er 30 Quadratmeter der Lobbyfläche monatlich an andere Nutzer vermieten kann.»
Unsicherheit bei Konsumenten
Stefan Schieker bestätigte, was Christian Schmidt und Markus Otto in ihren Voten beschreiben. Schieker: «Die Unsicherheit der Konsumenten ist auch auf Händlerseite sichtbar. Die Einzelhändler waren in der Wiedereröffnungsphase ihrer Läden extrem verunsichert und der Fokus lag hauptsächlich auf operativen Dingen. Viele Händler haben sich in dieser Phase gefragt, was und wie sie mit ihren Kunden kommunizieren müssen. Grundsätzlich zeigt sich ein zweigeteiltes Bild. Auf der einen Seite sind die Händler, die aktuell ums Überleben kämpfen und vorhandene Assets dafür kreativ nutzen müssen. Auf der anderen Seite gibt es Händler, die schnell auf strategische Themen aufgesprungen sind, insbesondere Digitalisierungsthemen. Bei beiden Gruppen wird deutlich, dass digitale Lösungen gepaart mit Flexibilität noch nie so wichtig waren wie in der jetzigen Situation. Ein konkretes Beispiel hierfür sind Bildschirme im Retail. Es geht nicht darum, panisch Investitionen zu tätigen, sondern darüber nachzudenken, wie diese Lösungen jetzt und in Zukunft eingesetzt und genutzt werden können, beispielsweise für die Kommunikation mit den Kunden im Laden. Einen handschriftlichen oder ausgedruckten Zettel neben seinen Bildschirm im Eingangsbereich zu hängen, ist vermutlich nicht die flexibelste und effizienteste Lösung für die Kommunikation mit den Konsumenten.»
Ralph Siegfried schloss sich seinen Vorrednern an: «Viele Anfragen im Zuge der Pandemie behandelten den Themenblock installierte Basis und die Frage, wie diese Produkte jetzt sinnvoll genutzt werden können, um die konkreten Herausforderungen technisch anzupacken. Auch hier gibt es ein anschauliches Beispiel: Die allermeisten Retailer haben Kameras installiert. Warum sollte man diese nicht nutzen, um beispielsweise ein- und austretende Personen zu zählen und so pragmatische und schnelle Eingangslösungen zu schaffen? Auch die installierten Bildschirme in Läden können wichtige Informationen an Kunden weitergeben, die in der Anfangsphase noch von physischen Sicherheitskräften übernommen wurden. Die Kaufzurückhaltung der Passanten kann ebenfalls über technische Lösungen adressiert werden, indem Kaufimpulse gezielt gesetzt werden. Axis hat die Erfahrung gemacht, dass zu Anfang der Krise sehr viele Anfragen von Händlern kamen, allerdings wurden nicht so viele Installationen, beispielsweise Ampellösungen am Eingang zu Geschäften, umgesetzt wie erwartet. Es zeigt sich aber auch, dass die Nachfrage nach digitalen Lösungen im Zuge der Infektionszahlen aktuell wieder steigt.»
Zu der Kaufzurückhaltung führte Stefan Schieker Zahlen einer Mindset-Studie aus dem Monat Juni 2020 an. Aus dieser geht zum einen hervor, dass Konsumenten den direkten Kontakt zum Verkaufspersonal scheuen, was der Beratungskompetenz im stationären Einzelhandel zu schaffen macht. Zum anderen deutet die Studie darauf hin, dass ein Grossteil (51 Prozent) der Konsumenten Produkte nicht mehr anfassen bzw. testen möchte, was sich vor allem auf Drogerieprodukte auswirkt. Diese Entwicklungen zeigen die Verunsicherung der Kunden und sind demnach eine schlechte Nachricht für den Handel, der sich selbst als Ort der Begegnung versteht und inszeniert. Durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen entsteht ein Bruch in dieser Logik.
E-Commerce
Dem entgegen steht der E-Commerce, der laut Christian Schmidt im FMCG-Markt ebenfalls stark gewachsen ist, allerdings auf kleinem Niveau mit einem Umsatzanteil von unter zwei Prozent. Die Effekte im Non-Food-Bereich waren allerdings deutlich: zwischen den Kalenderwochen 10 bis 22 war der Umsatz im Bereich Fashion & Lifestyle offline 42 Prozent niedriger als im Vorjahreszeitraum. Für den gleichen Zeitraum zeigen die GfK-Zahlen ein vierprozentiges Wachstum im Bereich Fashion & Lifestyle online. Dadurch wird deutlich, dass die Käufe, die offline nicht stattgefunden haben, nicht über den E-Commerce kompensiert wurden.
Moderator Atzberger schloss an die E-Commerce-Thematik mit der nächsten Frage an: Das Wissen, das Online-Händler über ihre Kunden sammeln können, führt zu einem grossen Vorteil für den E-Tailer. Wie können stationäre Händler dagegen ankommen und was können sie unternehmen?
Markus Otto: «Die am besten kuratierten Flächen findet man tatsächlich online. Die Händler profitieren von täglich, manchmal gar stündlich wechselnden Flächen. Das Ziel des stationären Einzelhändlers muss es sein, einerseits die Wissenslücke gegenüber seinem Kunden zu schliessen und andererseits den Laden in eine Bühne zu verwandeln, um Aktivitäten wie Kochkurse oder Lesungen anzubieten. Ein Weg dorthin kann die Vernetzung von physischer und digitaler Architektur sein.»
Die strukturelle Verschiebung zwischen Online und Offline ist auch für Stefan Schieker sichtbar. Er teilt die Einschätzung, dass beide Welten kein «entweder-oder» sind, sondern ein «und» und damit parallel existieren und idealerweise interagieren. Stefan Schieker: «Bei Marktanalysen zeigt sich immer wieder: Die grössten Player im Bereich Retail sind in beiden Welten unterwegs. Trotzdem fällt die Verknüpfung der beiden Bereiche oft schwer. Die Basistechnologie und der Einstiegspunkt für viele Händler ist oft ein Bildschirm, der im Laden angebracht wird und Bewegtbildinhalte zeigt. Aber digitale Technologien können viel mehr als das, wenn ihnen ein durchdachtes Konzept zugrunde liegt. Dieses Konzept ist zentral, denn das initiale Investment ist für Bildschirme und LED-Wände oft teuer und jede Technologie muss mit Daten gefüttert werden, um sinnvoll genutzt werden zu können. Hier ist es wichtig, sich als Händler zu fragen, was möchte ich beispielsweise über meine Kunden erfahren oder an meinen Kunden kommunizieren? Nutze ich die bestehende Hardware während der Corona-Pandemie richtig aus? Invidis sieht immer wieder Beispiele, in denen Händler in Läden eine schlichte Frequenzmessung über Personal am Eingang händisch zählen, obwohl sie die notwendige Technologie bereits installiert haben. Die drei Teilbereiche Hardware, Software und Content müssen sinnvoll zusammenspielen. Und vor allem den Bedürfnissen der Konsumenten entsprechen, fügt Herr Schmidt hinzu. Denn die digitalen Technologien am POS müssen zuallererst die Grundbedürfnisse der Kunden erfüllen. Das heisst, der Einkaufsprozess muss schnell, effizient und kostengünstig sein. Inspiration im Geschäft oder Wow-Effekte durch Technologien sind nur zweitrangige Mehrwertbedürfnisse. Die Pandemie hat ausserdem gezeigt, dass das Basisbedürfnis «Sicherheit» für den Kunden viel wichtiger geworden ist. Der Kunde ist deshalb auch bereitwilliger, neue Technologie zu akzeptieren. Befragungen der GfK belegen, dass Konsumenten bei einem echten Gegenwert und Nutzen durchaus bereit sind, dem Händler Daten zur Verfügung zu stellen.»
Kundenerkenntnisse
Ralph Siegfried teilte Herr Schiekers Einschätzung weitestgehend: «Es gibt genügend technologische Punktlösungen im Markt. Es geht aber darum, die Technologien zu verknüpfen und richtig zu integrieren. Das ist für jeden Einzelhändler unterschiedlich, da sich die Händler in verschiedenen Entwicklungsstadien der Digitalisierung befinden und nicht jeder Konsument und jeder Händler von ein und derselben Lösung den gleichen Nutzen davonträgt. Um nochmal auf Herrn Atzbergers Frage zurückzukommen – es ist ganz klar, dass es im stationären Bereich viel weniger Kundenerkenntnisse gibt als im Online-Handel und Kampagnen deshalb online oft besser gestaltet und zielgerichtet ausgespielt werden. Und doch kann schon heute über Video-Lösungen einiges erreicht werden: Besucherströme in Läden können gemessen, analysiert und vorhergesagt werden, damit Kunden die Zeiten mit hohen Besucherfrequenzen in Zukunft meiden können. Demografische Daten der Kunden zu Alter und Geschlecht können von KI-basierten Systemen gesammelt werden, die DSGVO-konform sind und mit Biometrie nichts zu tun haben. Diese Daten können in die Online-Kampagnen einfließen, um die Zielgruppen sowohl für die Onlineplattform, als auch für den stationären Bereich gezielt anzusprechen.»
Moderator Marco Atzberger fragte anschliessend nach dem Ausblick auf die nächsten Monate und was die Experten in ihren Bereichen erwarten. Er erteilte das Wort zuerst Markus Otto.
Markus Otto sagte, dass er vor allem die Vermischung von Konzepten im stationären Handel erwarte. Er gab zu bedenken, dass die einzelnen Branchen sehr unterschiedlich reagieren werden. Aus seiner Sicht wird es zwei bis zweieinhalb Jahre dauern, bis der Handel einen neuen Normalzustand erreicht hat. Stefan Schieker von Invidis bestätigte das hohe Mass an Unsicherheit, das in den nächsten Jahren bei vielen Händlern herrschen wird. Flexible und anpassbare Konzepte werden ein zentraler Punkt und mutige Konzepte werden aus seiner Sicht belohnt werden. Sein Rat: Nicht das machen, was alle anderen jetzt machen, sondern mutig vorangehen und Technologien sinnvoll nutzen. Ralph Siegfriedgab zu bedenken, dass aktuell viele Konzepte entwickelt werden, oft jedoch die kostengünstigste Lösung gewinnt. Aus seiner Sicht ist die Nachhaltigkeit der Lösungen jedoch der wesentlichste Punkt. Viele der Lösungen werden von einer Kundenanalyse abhängen, die zeigt, wie der Kunde sich verhält, wie er sich im Laden und in der Innenstadt bewegt. Durchsagen zu Hygienemassnahmen können beispielsweise auch rein situativ ausgespielt werden, wenn sich zum Beispiel zu viele Personen in einem Bereich befinden oder Personen ohne Maske im Laden von Kameras erkannt werden. An der Analyse der Maskenpflicht wird aktuell gearbeitet, damit Personen ohne Maske von Kameras erkannt werden können. Die Künstliche Intelligenz muss hierfür mit Daten versorgt werden, um korrekte Ergebnisse zu liefern.
Zum Abschluss der Diskussion kam die Frage auf, in welche Techniken der selbstständige Lebensmittelhändler jetzt investieren sollte.
Die Experten waren sich einig, dass das Anregen von Impulskäufen aktuell eher ein Thema im Fashion-Bereich ist, wogegen im Lebensmittel-Einzehandel (LEH) besonders die Produktverfügbarkeit im Regal entscheidend ist. Den Füllstand der Produkte zu messen, und dem Kunden gegebenenfalls auch vor dem Besuch des Ladens mitzuteilen, ist eine Massnahme, in die investiert werden kann, um ein Basisbedürfnis des Kunden, d.h. die Verfügbarkeit der Produkte, zu befriedigen.
Zusätzlich ist auch die Begrenzung der Kundenanzahl angesichts der dynamischen Entwicklung der Infektionszahlen und der damit verbundenen Regelungen ein wichtiger Ansatzpunkt für Investitionen. Über Displays im Eingangsbereich kann die Besucherfrequenz adressiert werden. Ralph Siegfried merkte an, dass der Warteschlangenbereich im LEH aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos ein Thema ist, das Lebensmittelhändler mit Technologien, beispielsweise Kameras und Audio-Lösungen, angehen können, um den Abstand zwischen Personen zu wahren und die Warteschlangen so kurz wie möglich zu halten. Auftrieb erhalten ebenfalls Konzepte, bei denen Konsumenten praktisch kontaktlos und rund um die Uhr einkaufen können – Läden ohne Mitarbeitende. Technologie macht dieses Format überhaupt erst möglich.