Herr Graf, beginnen wir mit der Gretchenfrage: Gibt es in zehn Jahren noch Detailhandelsfachleute?
René Graf: Ja, aber der Beruf wird sich weiter wandeln. Stationärer Handel und Onlinehandel wachsen zusammen – deshalb müssen Detailhandelsfachleute fit in beiden Bereichen sein und über alle Kanäle mit den Kundinnen und Kunden interagieren können.
Hand aufs Herz, die Digitalisierung setzt Ihren Berufen zu: Onlineshopping, automatisierte Logistik und Bestellprozesse, Selfscanning … Für Detailhandelsfachleute bleibt immer weniger Arbeit.
Im Gegenteil: Die Digitalisierung eröffnet zusätzliche Tätigkeitsfelder. Deshalb bieten wir in der beruflichen Grundbildung ab 2022 den Schwerpunkt «Betreuen von Online-Shops» an. Und in der höheren Berufsbildung lancieren wir den Beruf «E-Commerce-Spezialist/-in».
Welches Arbeitsumfeld werden Detailhandelsfachleute in Zukunft antreffen?
Unsere Berufsfeldanalyse zeigt drei Trends: Die Digitalisierung nimmt zu, der Kundennutzen wird wichtiger, die Verkaufskanäle wachsen zusammen. Die Leute bewegen sich vermehrt im Internet, suchen aber gleichzeitig im Laden ein Einkaufserlebnis. Die Herausforderung für künftige Detailhandelsfachleute ist, auf allen Kanälen kompetent zu sein. Die Stichworte dazu sind Omnichanneling und Multichanneling.
Braucht es deshalb eine grundlegende Reform der beruflichen Grundbildungen?
Ja. Die letzte Reform datiert aus dem Jahr 2004 – eine Ewigkeit in einer Branche, die sich so rasant wandelt wie der Detailhandel. Berufsleute brauchen heute nebst Fachkompetenz viele überfachliche Kompetenzen: Sie müssen kritisch und vernetzt denken, offen und konstruktiv mit Veränderungen umgehen, moderne Kommunika-tionstechnologien beherrschen, die Grundlagen der Verkaufspsychologie verstehen usw.
Was bringt die Reform den Lehrbetrieben?
Wir stehen im Wettbewerb mit anderen Berufen. Sind unsere Ausbildungen nicht modern und attraktiv, werden uns eines Tages die Fachkräfte fehlen. Die Lehrbetriebe profitieren aber auch davon, dass die Ausbildung durch die Reform praxisbezogener wird. An allen Lernorten – im Lehrbetrieb, in der Berufsfachschule, in den überbetrieblichen Kursen – orientiert sich die Wissens- und Kompetenzvermittlung künftig an konkreten beruflichen Situationen.
Was bedeutet das für die Berufsfachschulen? Wie können sie praxisorientiert unterrichten?
Anstelle einzelner Fächer wird künftig entlang beruflicher Handlungskompetenzen unterrichtet. Nehmen wir die Handlungskompetenz «Kundenbedürfnisse analysieren und Lösungen präsentieren»: Im Rahmen dieses Gefässes werden Berufskenntnisse, Kenntnisse der lokalen Landessprache sowie der Fremdsprache vermittelt. Es gibt also keine Fächer wie «Berufskunde», «Deutsch» oder «Französisch» mehr. Alles wird im Kontext einer alltäglichen Arbeitssi-tuation vermittelt. Dabei gilt die Devise «So viel Praxis wie möglich – so viel Theorie wie nötig.»
Wie werden die Lehrpersonen darauf vorbereitet, dass künftig keine herkömmlichen Fächer mehr unterrichtet werden?
Wir unterstützen sie mit praxisnahen und digitalen Lernmedien bei dieser anspruchsvollen Umstellung und investieren gezielt in ihre Weiterbildung. Eine gute Umsetzung in den Berufsfachschulen ist zentral für den Erfolg der Reform.
Besteht nicht die Gefahr, dass kleinere Betriebe nicht mehr ausbilden? Wozu braucht eine Dorfbäckerei einen Multichanneling-Profi?
Sie braucht vielleicht keinen Multichanneling-Profi – aber eine Spezialistin oder einen Spezialisten für Einkaufserlebnisse. Viele kleinere Betriebe sind in diesem Bereich gut aufgestellt: Die Bäckerei betreibt ein Café oder bietet einzigartige Produkte an, die Boutique organisiert Modeshows, der Lebensmitteldetaillist veranstaltet Degustationen usw. Warenpräsentation und Ladengestaltung gewinnen an Bedeutung. Deshalb kann die Grundbildung neu in den Schwerpunkten «Gestalten von Einkaufserlebnissen» oder «Betreuen von Online-Shops» absolviert werden. Die Dorfbäckerei wird für ihre Lernenden wohl den ersten Schwerpunkt wählen, Betriebe mit zusätzlichem Online-Shop den zweiten, der Grossverteiler wird sich je nach Einsatzgebiet der Lernenden entscheiden.
Bei aller Emotionalisierung des Verkaufserlebnisses: Welche Rolle spielen künftig noch Fachkenntnisse, also die schlichte fachliche Beratung?
Fachkenntnisse sind die Grundlage und bleiben wichtig. Aber nicht alle Kundinnen und Kunden wollen mit Fachwissen überschüttet werden, weil sie sich vor dem Besuch im Geschäft bereits im Internet ausführlich informiert haben. Vielmehr möchten sie wissen, wie sich dieser oder jener Ski auf der Piste anfühlt – um ein Beispiel zu nennen. Unsere Detailhändler sollen neben dem Fachlichen auch eine Emotion für das Produkt vermitteln. Mit diesen beiden Kompetenzen müssen wir die jungen Berufsleute ausstatten.
Steigt mit der Reform das Anforderungsniveau für die Lernenden?
Nein. Wir haben – wie bisher – eine zweijährige (EBA) und eine dreijährige (EFZ) berufliche Grundbildung, wobei letztere mit der Berufsmaturität kombiniert werden kann. Die Lehrbetriebe können also bei der Selektion denselben Massstab anwenden wie bisher.
Sprechen Sie mit den neuen Grundbildungen eine neue Zielgruppe Jugendlicher an?
Wir wollen die bisherigen Zielgruppen halten. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir dank des neuen Konzepts vermehrt engagierte Jugendliche mit praktischen Fähigkeiten ansprechen können, weil die Ausbildung weniger theorielastig wird.
Wie sehen die Perspektiven nach einer Lehre im Detailhandel aus?
Unser Berufsfeld bietet vielfältige Weiterbildungsmöglichkeiten – von der Berufsprüfung «Detailhandelsspezialist/-in» bis zur höheren Fachprüfung «Detailhandelsmanager/-in». Neu bieten wir die Berufsprüfung «E-Commerce-Spezialist/-in» sowie den CAS «Retail Innovation» an. Und die Arbeitsmarktaussichten sind gut.
Zurück zum Anfang: Was sagen Sie Eltern, die heute zweifeln, dass ihre Kinder im Detailhandel eine berufliche Zukunft finden?
Wir ermöglichen den sicheren Einstieg ins Erwerbsleben, weil der Trend zur Dienstleistungsgesellschaft weitergeht, unsere Grundbildungen modern sind und das Berufsfeld attraktive Karrieremöglichkeiten bietet. Mehr noch: Wer im Detailhandel eine Grundbildung macht, trainiert täglich den Umgang mit Menschen sowie die Arbeit im Team. Diese Kernkompetenzen sind in allen Berufen und auch im Privaten gefragt.