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Unternehmen und Märkte

Patrick Kessler (VSV): «Wir werden uns künftig von guten Margen verabschieden müssen»

Patrick Kessler, E-Commerce-Experte und Präsident des VSV (Verband Schweizer Versandhandel). Bild: zVg

Das Grosse Interview – Patrick Kessler ist mit dem Online-Handel bestens vertraut. Seit rund zehn Jahren Präsident des VSV (Verband Schweizer Versandhandel), gilt er als genauer und kritischer Beobachter des Schweizer Handels mit Fokus E-Commerce. HANDEL-HEUTE-Redaktor Robert Altermatt hat sich mit Patrick Kessler unterhalten.

 

Dieses Interview wurde erstmals in der HANDEL-HEUTE-Printausgabe, Nummer 2-2018, publiziert.



Interview: Robert Altermatt

 

HANDEL HEUTE: Der Online-Handel ist im vergangenen Jahr wiederum stark gewachsen, und zwar um satte zehn Prozent auf 8,6 Milliarden Franken. Besonders beliebt bei den Schweizern sind Unterhaltungselektronik-Artikel. Aber auch Fashion/Schuhe sowie Food sind im Kommen. Warum legen gerade diese Segmente so stark zu?
Patrick Kessler: Was die Unterhaltungselektronik betrifft, so besteht per se eine Nähe zum Medium Internet. Unterhaltungselektronik ist etwas sehr Technisches, aufgrund der riesigen Produktauswahl muss viel verglichen werden, es herrscht eine grosse Auswahl vor. Deswegen ist die Unterhaltungselektronik ein prädestiniertes Sortimentfür den Online-Handel und deshalb wächst dieses Segment mit einem aktuellen Marktanteil von 30 Prozentauch so stark.


Fashion/Schuhe war bereits im «alten» Versandhandel stark. Mit dem Markteintritt von Zalando begann dieser Bereich dann richtig zu wachsen. Der Online-Anteilhier beträgt momentan 15 Prozent, dieser Anteil steigt aber substanziell jedes Jahr. Bestellungen online zu tätigen sind bequem und einfach, ich denke da im Fashion/Schuhe-Segment insbesondere auch an die Retouren. Der Food-Bereich fristet hingegen in Relation zum Gesamtmarkt noch ein Mauerblümchendasein. Dank Anbietern wie beispielsweise Nespresso oder LeShop, aber auch dank des Wein-Handels sind die Volumina online recht ansehnlich. Dieses Segment hat aber noch Luft nach oben.

 

Rund ein Fünftel der in der Schweiz getätigten Online-Einkäufe erfolgt im Ausland. Was bedeutet diese Entwicklung für Schweizer Online-Händler?
Der Druck auf Preise steigt. In der Heimelektronik ist das Preisniveau aktuell schon sehr tief, bei den Textilien gibt es insbesondere im Markenartikel-Bereich starke Preisnachlässe. Kunden müssen zum Einkaufen nicht mehr physisch über die Grenze gehen. Der Online-Handel bietet vielfach das gleiche Preisniveau. Der boomende Online-Handel hat natürlich auch Konsequenzen auf das stationäre Geschäft. In meinen Augen ist der physische Einkaufstourismus langfristig weniger das Problem als der digitale Einkaufstourismus. Insgesamt ist für mich klar, dass wir uns in der Schweiz sowohl im stationären als auch im Online-Handel von guten Margen verabschieden müssen.


Ab dem nächsten Jahr müssen auch ausländische Online-Firmen ab einem Umsatz von 100 000 Franken Mehrwertsteuer bezahlen. Was sind die Folgen?
Heutzutage gibt es einige ausländische Online-Händler, die Waren in die Schweiz einführen, die keiner Mehrwertsteuer- und Zollabgabe-Pflicht unterliegen. Diese Anbieter nutzen die Freibetragsgrenze, die aktuell bei 65 Franken pro Paket liegt, aus. Die Händler mit mehr als 100 000 Franken Umsatz werden also mehrwertsteuerpflichtig, ein ungerechter Wettbewerbsvorteil gegenüber Schweizer Händlern entfällt.


Wie im stationären Handel, so fliessen auch im Online-Geschäft viele Franken ins Ausland. Welche ausländischen Anbieter profitieren davon am meisten?
Dazu müssen wir etwas in der Historie zurückblättern. Ganz am Anfang war im C2C-Bereich das Online-Auktionshaus Ebay der Überflieger, danach startete Amazon durch. Heute fliessen viele Franken in den angelsächsischen, in den ­US-amerikanischen und vor allem in den asiatischen Markt. Vom Trans­aktionsvolumen her wird sich der Markt in Zukunft aber eindeutig nach Asien verlagern. Profitieren davon werden in erster Linie preisgünstige Anbieter wie Aliexpress und Wish.


2017 haben Konsumenten in der Schweiz rund 30 Millionen Bestellungen bei ausländischen Händlern wie Amazon, Aliexpress, Wish etc. abgewickelt – so viele wie noch nie. In diesem Zusammenhang haben Sie kürzlich öffentlich erklärt, dass diese Situation bei Ihnen Bauchweh verursacht. Warum?

Was mir Bauchweh bereitet, ist die Wachstumsgeschwindigkeit dieser Entwicklung. Vor fünf Jahren kamen noch zehn oder zwölf Millionen Pakete in die Schweiz. Dann plötzlich explodierte der Markt. Heute haben wir Wachstumsquoten von 25 bis 30 Prozent. Sorgen machen mir weniger die Warenkorb-Beträge, sondern die grosse Anzahl Bestellungen. Ausländische Online-Plattformen wie etwa Aliexpress sind in der Bedienung in den letzten Jahren sehr einfach geworden, die Website und App sind auch auf Deutsch einfach verfüg- und nutzbar. Zudem sind diese Händler preislich drei- bis viermal günstiger als hiesige Anbieter. Am Schluss des Tages nimmt jede Bestellung, die im Ausland getätigt wird, unseren Händlern Umsatz weg. Klar ist: Unsere Handelsstrukturen werden sich verändern. Gleichzeitig werden ausgeprägte politische Diskussionen, zum Beispiel über Steuern (Mehrwertsteuer), Direktimporte, Sicherheitsmassnahmen und Deklarationsvorschriften auf uns zukommen.


Wie können sich Schweizer Online-Händler erfolgreich gegen ihre ausländischen Mitbewerber behaupten?
Ich sage es mal so: Wer sich nur über den Produktpreis definiert, hat in der Regel geringe Chancen, auf dem Markt zu bestehen. Anbieter müssen sich zwingend über Serviceleistungen positionieren. Das mag zwar eine Worthülse sein, ist aber zentral. Zu den Schlüssel-Elementen für guten Service zählt für mich: a.) Verfügbarkeit und Liefergeschwindigkeit der Ware; b.) Rückgaberecht und –fristen. Hier sollten die Prozesse möglichst einfach und kulant sein. c.) Serviceleistungen in Form von Kauf auf Rechnung, Reparaturen und Ersatzgeräten sowie Kulanz, beispielweise bei der Warenrücknahme.


Ausländische Online-Anbieter legen in der Schweiz stark zu – wie hoch wird der Marktanteil dieser nicht-heimischen Marktteilnehmer in circa fünf Jahren sein?

Sogleich eines vorweg: Wir haben auch in der Schweiz ganz starke Akteure im Online-Bereich. Ich denke da etwa an Digitec, Brack, Coop oder Migros – allesamt Händler, die digital sehr gut aufgestellt sind und die gescheit in den Markt investieren. Nichtsdestotrotz gehe ich aber davon aus, dass wir in der Schweiz in circa fünf Jahren 25 bis 30 Prozent (Umsatz) Direktimportgeschäft im Online-Handel haben werden, weil 50 Prozent der Bevölkerung es bevorzugt, günstig einzukaufen. Die Tendenz wird sein, dass zwei oder drei ganz grosse Anbieter den Markt dominieren werden. Daneben wird es aber viel Platz für Nischenanbieter haben, was Schweizer Händlern sicherlich entgegenkommt.


Auch wenn der Blick in die Kristallkugel per se ein schwieriges Unterfangen ist: Wie präsentiert sich der Schweizer Online-Markt in fünf bis zehn Jahren?

Die zentrale Frage für mich: Wo befinden wir uns in der Entwicklung? Gewisse stationäre Händler verschreiben sich gegenwärtig eine Beruhigungstablette, indem sie der Ansicht sind, dass es mit dem Online-Wachstum vorerst vorbei sei, weil ja zum Beispiel sogar Amazon stationäre Shops aufmacht. Ich teile diese Haltung gar nicht. Wir befinden uns – was das digitale Wachstum betrifft – in einer beschleunigenden Phase, die noch ein paar Jahre anhält. Ich behaupte, dass wir in spätestens drei Jahren im Non-Food-Bereich einen Online-Anteil von 20 Prozent am Gesamtmarkt haben werden. In ferner Zukunft könnte der Anteil sogar bei 50 Prozent liegen, es stellt sich einzig die Frage, ob es sich dabei um einen reinen Online-Anteil oder um ein Mischlösung handeln wird. Klar ist: der digitale Kanal wird nicht mehr verschwinden!


Immer wichtiger im Zusammenhang mit Online-Handel wird diesbezüglich die Bedeutung der Logistik. Weshalb?
Das Wichtigste beim Online-Handel ist, dass die Ware wie versprochen termingerecht und den Anforderungen und Erwartungen des Kunden entsprechend ankommt. Der zweite wichtige Punkt ist die Geschwindigkeit. In der Online-Welt ist alles schnell verfüg- und vergleichbar und lässt sich rasch bestellen, eine schnelle Liefergeschwindigkeit das A und O. Waren vor zwanzig Jahren Lieferzeiten von drei bis vier Tagen Usus, so ist heute eine Next-day-Lieferung eine Standardleistung, welche der Kunde häufig schon erwartet. Die Geschwindigkeit erhöht sich dauernd, und das wiederum bringt es mit sich, dass die Bedeutung der Logistik zentral geworden ist, um schnell liefern zu können. Die Verkettung aller logistischen Prozesse – angefangen bei eigenen Lagertätigkeiten, der Warenkommissionierung oder der Verpackung trägt wesentlich dazu bei, dass das «Kunstwerk» Online-Handel in dieser Geschwindigkeit und Masse funktioniert.


Waren noch am selben Tag auszuliefern («Same day delivery») ist immer häufiger im Portfolio von Händlern anzutreffen. Welche Herausforderungen stellt diese Entwicklung an die Händler?
«Same day delivery» ist derzeit ein wirklich heisses Thema, aber dieser Aspekt erhöht zusätzlich nochmals die Komplexität des ganzen Logistikprozesses. Lieferzeit ist die Funktion «Weg durch Geschwindigkeit». Wenn die Ware rein physisch weit weg vom Kunden entfernt gelagert wird, dann setzt alleine der Transportweg Limiten, weil in der Regel das Transportmittel nicht beliebig verschnellert werden kann (das Thema Drohnen lasse ich diesbezüglich mal aussen vor). Jedenfalls ist man aufgrund dieser Limite als Händler fast nicht in der Lage, Lieferzeiten noch am selben Tag zu realisieren. Der Weg aus diesem Dilemma: die Wege zwischen Ware und Kunde müssen kürzer werden. Das lässt sich umsetzen, indem Warenbestände vernetzt werden. Stichwort hierbei ist die dezentrale Warenhaltung respektive der Zugriff auf stationäre Bestände, mit Hilfe derer gewisse Waren in der Nähe der Kunden in einer gewissen Menge bereitgehalten werden, um dann bei Bedarf umgehend an die Kunden ausgeliefert zu werden.


In der Schweiz wird das Datenschutzrecht revidiert. Mit der Revision werden die Daten der Bürger/Konsumenten besser geschützt. Für Firmen bedeutet dies einen deutlichen Mehraufwand. Welche Konsequenzen wird dieses Gesetz für die (Online-)Händler nach sich ziehen?
Für uns Online-Händler ist Datenschutz ein altes Thema, mit dem wir uns immer wieder einmal konfrontiert sehen. Mein Schatz, den ich als Unternehmer habe, sind meine Daten. Mit diesen Daten muss ich vorsichtig umgehen, ich muss sie gezielt einsetzen und ich muss penibel darauf achten, dass sie nicht in falsche Hände gelangen. Insofern sind wir es uns als Online-Händler schon gewohnt, mit dieser Thematik umzugehen. Was mit dem revidierten Datengesetz auf uns Online-Händler neu hinzukommt, ist eine gewisse Formalisierung. Gefordert ist seitens der Unternehmen sicherlich eine stärkere Dokumentierung. Konkret: was mache ich als Händler mit meinen Daten, wo gehen diese hin? Zudem muss ich den Kunden informieren, was mit seinen Daten geschieht.


Ich stelle fest: Erstens wird mit dem revidierten Datenschutzrecht Transparenz geschaffen, sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Kunden. Der zweite Aspekt ist, dass wir es hier mit einer eigentlichen Systemumkehr zu tun haben. In Zukunft braucht ein Online-Händler immer die Einwilligung des Konsumenten, dass man diesem im Nachgang zu einer Bestellung einen Newsletter versenden oder seine Daten anderweitig bearbeiten darf. Prinzipiell begrüsse ich das.


Problematisch finde ich in Zusammenhang mit dem revidierten Gesetz, dass nach aussen hin gegenüber dem Konsumenten kommuniziert wird, dass die Daten der Kunden sicher sind. Gerade im Online-Handel habe ich als Unternehmer zumeist gar keine andere Wahl, als meine Daten weiterzugeben, beispielsweise an einen Lieferanten wie die Schweizerische Post oder wenn ich meine Adressdaten an einen Bonitätsprüfer oder der Kreditkartenfirma übergebe. Ob aber deswegen meine Daten sicher sind? Ich hoffe es sehr, hege diesbezüglich aber auch Zweifel – meines Erachtens sind das weniger Sicherheitsmassnahmen und schon eher Transparenz- und Einwilligungsmassnahmen.


Wie sieht das persönliche Einkaufsverhalten von Patrick Kessler aus? Mehr online als klassisch stationär, oder?
Meinen ersten Online-Einkauf habe ich im Jahr 1998 gemacht! Dabei handelte es sich um ein Sofa im Wert von mehreren tausend Franken, das ich über das World Wide Web in Italien erstanden hatte. Bei diesem Online-Einkauf hat alles wunderbar geklappt, auch wenn es damals noch ein grosses Abenteuer war. Seither bin ich mit dem Online-Virus infiziert. Mein persönliches Einkaufsverhalten gestaltet sich heute so, dass ich praktisch ausschliesslich online einkaufe – mit Ausnahme von Lebensmitteln. Den grossen Rest – Textilien, Heimelektronik-Artikel oder Weihnachtsgeschenke – kaufe ich allesamt übers Internet. Online-Einkauf: das ist bei mir eine «déformation professionelle». Ich mache es gerne, es funktioniert, ich fühle mich wohl und sicher dabei. Meine Kinder ticken diesbezüglich übrigens gleich wie ich...


Was fasziniert Sie an Ihrem Job?
Mich begeistert es zu sehen, wie unglaublich schnell und kontinuierlich sich im Online-Handel alles verändert. Der Online-Handel von heute ist ein völlig anderer als noch vor fünf Jahren, sei es in Sachen Kommunikation, Technologien und sonstigen Entwickungen. Ich stelle fest: Diejenigen Händler, die ihr Online-Geschäft auf der grünen Wiese starten, haben es wesentlich einfacher als Händler, die ihre bestehenden klassischen Geschäftsmodelle den neuen digitalen Begebenheiten anpassen müssen. Genau das ist es, was mich an diesem Job so fasziniert, nämlich diese Veränderungsprozesse zu beobachten und zu begleiten. Nicht minder faszinierend finde ich, was auf der strategischen Ebene der Handelslandschaft passiert – gerade jetzt in einer Phase, wo Markenproduzenten und Hersteller, die bis jetzt auf den Handel angewiesen waren, ihre Produkte selber anfangen zu verkaufen. Das ist ein fundamentaler Wandel, der hier vonstatten geht.


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