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Unternehmen und Märkte

Flexibler Schweizer Handel – stabile Löhne trotz Einkaufstourismus

Der Schweizer Handel kämpft wie die Industrie mit den Folgen des 15. Januar 2015. Der Einkaufstourismus kostete die Schweiz in zwei Jahren 20'000 Arbeitsplätze und 20 Milliarden Franken. Wachstumsimpulse erhofft sich der Handel aus weiteren Freihandelsabkommen und der Digitalisierung. Handel Schweiz rechnet mit Investitionen in die Digitalisierung von rund 4 Milliarden Franken für die nächsten fünf Jahre. Dem Fachkräftemangel begegnet der Handel mit Rekrutierung im Ausland, wo Fachkräfte mit hohen, mittleren und kleinen Qualifikationen herkommen. Für einfachere Arbeiten würden gemäss einer Umfrage 34 Prozent der Handelsunternehmen befristet Flüchtlinge einstellen, wenn der Staat die Sprachkompetenz der Kandidaten sicherstellt.

Der Handel ist nicht nur der wichtigste private Arbeitgeber der Schweiz, der 680'000 Personen beschäftigt und 14 % der Schweizer Arbeitsplätze sichert. Der Handel wird auch sehr stark durch die internationalen politischen Veränderungen beeinflusst. Europa ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz und wickelt 37% des weltweiten Warenhandelsvolumens von insgesamt 17'900 Mrd. Dollar ab. An zweiter Stelle stehen Asien/Pazifik mit 30 %. Wie wichtig die Freihandelsabkommen für das Nicht-EU-Mitglied Schweiz sind, zeigen die aktuellen Entwicklungen. Soeben wurden die Verhandlungen zu TPP (Trans-Pacific Partnership) zwischen den USA und elf Pazifikanrainerstaaten abgeschlossen. Das Abkommen deckt 25 % des Welthandels und 40 % der Weltwirtschaft ab. Aktuell verhandeln die USA und EU die weltweit grösste Freihandelszone TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) – die Schweiz ist nicht dabei. Sie ist aber betroffen, denn mehr als zwei Drittel aller Schweizer Exporte gehen in diesen Raum. Brisante Themen bietet auch das Dienstleistungsabkommen TISA (Trade in Service Agreement), das u.a. elektronische Transaktionen und Internetleistungen regeln soll. Die Schweiz ist als WTO-Mitglied dabei. 

Sichere Arbeitsplätze, stabile Löhne
Die internationalen Bestrebungen, die Handelsräume neu zu definieren, bringen den Handel weltweit in Bewegung. In der Schweiz wird das Wachstum im Handel durch den Entscheid der Nationalbank vom 15. Januar 2015 sowie durch die Masseneinwanderungsinitiative eingeschränkt. Die aktuelle Konjunkturumfrage von Handel Schweiz zeigt denn auch eine anhaltende Verkleinerung der Belegschaft. Mittel- und langfristige Chancen sieht Handel Schweiz in weiteren Freihandelsabkommen und in den Veränderungsschüben, die sich aus der Digitalisierung, Industrie 4.0 und Handel 4.0 ergeben können. 

Mit einer nominalen Wertschöpfung von CHF 168'700 pro Arbeitsstelle und Jahr liegt der Handel knapp über dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt von CHF 158'000 und deutlich über dem Niveau anderer Binnenmarktbranchen wie der Landwirtschaft, dem Gastgewerbe und dem Baugewerbe. Das überdurchschnittliche Ergebnis wird vor allem durch den Grosshandel getragen, der 2014 rund 201'000 Vollzeitstellen anbot. 7 % der Schweizer ArbeitnehmerInnen sind im Detailhandel tätig, 5 % im Grosshandel. 

Fachkräftemangel: Rekrutierung im Ausland
Bereits heute beklagt der Handel einen Fachkräftemangel. So hat die Ausbildung u.a. in den MINT-Fächern mit der zunehmenden Nachfrage nach Fachkräften nicht Schritt gehalten. Zum anderen konkurriert der Handel mit Hochlohnbranchen aus dem Export – z. B. Pharmaindustrie – oder im Inland, z. B. Bauindustrie. 

Als Lösung bietet sich die Fokussierung auf ein weiter gefasstes Arbeitskräftepotenzial an. In einer telefonischen Umfrage wurden 50 Handelsbetriebe aus verschiedenen Branchen nach der Beschäftigung von ausländischen Mitarbeitenden gefragt. 45 % der befragten Handelsunternehmen beschäftigen wenig qualifizierte Zuwanderer. 37 % haben qualifizierte Fachkräfte angestellt. In 22 % der Handelsunternehmen arbeiten internationale Top-Kräfte. 8 % der Handelsfirmen bieten Flüchtlingen eine Lehrstelle an. Als Grund für die Einstellung der ausländischen Mitarbeitenden gaben 61 % der Befragten an, dass keine Schweizer Fachkräfte für die jeweilige Tätigkeit gefunden wurden. 34 % der Befragten würden Flüchtlinge für ein zeitlich befristetes Integrationsprojekt einstellen. Damit verbinden sie jedoch die Forderung, dass die Personen die Landessprache nicht nur sprechen, sondern auch lesen können. Vom Staat werden Zuschüsse für die Beteiligung an einem Integrationsprojekt und die Sicherung der Sprachkurse erwartet. 

Einkaufstourismus gefährdet Arbeitsplätze und Löhne
Der Handel hat die Lohnexzesse anderer Branche nie mitgemacht und kann seit Jahrzehnten eine relativ stabile Beschäftigungslage aufweisen. Dies gilt auch für die Jahre 2015 und 2016. Zwar hat der Einkaufstourismus die Schweizer Wirtschaft für 2014 und 2015 zusammen gerechnet rund 20'000 Arbeitsplätze gekostet. Trotzdem bleiben die Löhne stabil oder können individuell leicht erhöht werden. Kaspar Engeli, Direktor Handel Schweiz, warnt jedoch: «Bleibt der Einkaufstourismus bestehen oder verstärkt er sich, so muss mit grossflächigen Entlassungen und Lohnsenkungen gerechnet werden – nicht ohne schädliche Auswirkungen auf die restliche Wirtschaft.»

Grenzen zwischen Grosshandel und Einzelhandel verwischen
Die Veränderungswelle im Handel betrifft nicht nur die politische Grosswetterlage, die Freihandelsabkommen und die Arbeitsplätze. Auch die Art des Geschäftes verändert sich. So vermischen sich die Grenzen im Gross- und Detailhandel immer stärker. Grossverteiler engagieren sich im Konsumgüterbereich des Grosshandels. Der Grosshandel erfüllt immer mehr die Rolle des Fachhandels, indem er kleine Mengen liefert. Er übernimmt Informations-, Beratungs- und andere Dienstleistungen oder Anpassungen des Produkts. Er ist für Qualitätskontrollen, Marketing, Wartung und Finanzierung verantwortlich. 

Digitalisierung: Handel 4.0 – Milliarden gesucht 
Weitere Änderungen bringt die zunehmende Digitalisierung mit sich. So können Kosten gesenkt und die Produktivität erhöht werden. Wir befinden uns in einer neuen industriellen Revolution. War das alte Bild der Produktion durch Massenfertigung und Fliessbandarbeit geprägt, so ist die neue Realität die spezialisierte Kleinserienfertigung in der industriellen Produktion. Es gibt heute bereits Prototypen für Sportschuhe mit individuell angepassten Sohlen. Diese Spezialisierung stellt hohe Anforderungen an die Digitalisierung der Prozesse und die Zuverlässigkeit der Lieferketten. Die Anarbeitung und Vorfertigung von Bauteilen bekommt einen neuen Stellenwert. Handel und Logistik haben hier grosse Herausforderungen zu schultern. Grosse Unternehmen haben heute ihre Beschaffungswege bis in den Handel automatisiert. Der Internethandel bezieht zunehmend den stationären Handel wieder ein und offeriert den stationären Handel als Sofortkauflösung. Wenn es gelingt, diese Prozesse, die den Handel 4.0 ausmachen, im gesamten Handel bis hin zum Fachhandel zu etablieren, dann kann die Produktivität und die Wirtschaftlichkeit in der Schweiz so gestärkt werden, dass die Hochlohnthematik an Brisanz verliert. Dafür muss die Schweiz zu den Vorreitern in dieser Entwicklung gehören. 

Doch diese Individualisierung von Produktion und Handel wird viel Geld kosten. Ein grosser Anteil der Digitalisierungslösungen ist im Handel noch längst nicht vorhanden und wird zudem für die jeweilige Unterbranche entwickelt werden müssen. Kaspar Engel: «Heute sind viele Schnittstellen für Handel 4.0 noch nicht kompatibel, eine Umsetzung ist Pionierleistung. Ausgehend von durchschnittlichen Kosten für die Digitalisierung und Automatisierung von Handelsprozessen rechnen wir allein mit Investitionen von CHF 4 Mrd., die der Schweizer Handel in den kommenden fünf Jahren in Handel 4.0 investieren muss.» Nur wer dazu in der Lage ist, kann mit nachhaltigen Erfolgen rechnen. 

Studie geht von Wachstumsraten von 2,7 % für Grosshandel aus
Der Grosshandel erbringt rund zwei Drittel des Gesamtumsatzes im Handel, der sich auf CHF 345 Mrd. (2012) beläuft. Nur ein Drittel des Umsatzes entfällt auf den Detailhandel. Dabei ist der Detailhandel in der Wahrnehmung deutlich präsenter. Die aktuelle BAK-Studie zu den Zahlen und Fakten im Handel führt aus, das erhebliche Wachstumsschübe von der Digitalisierung der Supply-Chain bis hin zu Handel 4.0 und neuen digitalen Vertriebswegen erwartet werden können. Das gilt vor allem für den Grosshandel, dem die BAK-Experten jährliche Wachstumsraten von 2,7 % zutrauen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass die Produktivitätsgewinne vor allem auch zu einem langfristigen Wachstum im Handel führen werden und so die Arbeitsstellen von heute 680‘000 Personen sichern. 

Digitalisiertes Lager – Beratung per Telefon 
Einer der Schweizer Pioniere in der Digitalisierung und Automatisierung im Grosshandel ist die Hans Kohler AG aus Zürich, die seit fast 100 Jahren im Handel mit Edelstahl und rostfreiem Stahl tätig ist. Das Unternehmen importiert, lagert und vertreibt 22‘000 Edelstahlprodukte an über 7'000 Kunden in der Schweiz und beschäftigt an fünf Standorten 155 Mitarbeitende. Insgesamt werden jährlich 124'000 Aufträge abgewickelt. Die 45 Mitarbeitenden im Verkauf führen täglich rund 1‘000 Beratungs- und Verkaufsgespräche am Telefon. Daran ändern auch erhebliche Investitionen in die Digitalisierung und Automatisierung nichts. Bereits 1978 hatte die Firma das erste halbautomatische Hochregallager für rostfreien Stahl in der Schweiz. Auch heute verfügt der Edelstahl-Händler über das modernste Lager der Schweiz. Die Investition wird über einen Zeitraum von 20 Jahren amortisiert. Hans R. Kohler, Delegierter des Verwaltungsrates, Hans Kohler AG, Zürich: «Wir sind im Lager schneller und sicherer in der Auslieferung bei einer kleineren Anzahl von Mitarbeitern. Das ist das, was bei der Kostenrechnung das Produkt günstiger macht. Wir können mit einer kleineren Marge leben. Doch mit unseren hohen Personalkosten in der Schweiz müssen wir automatisieren.» Hans Kohler AG hat in den letzten Jahren nur eine Person aus Kapazitätsgründen entlassen müssen. Für die Zukunft des Stahlhandels wünscht sich der Unternehmer einen gut umsetzbaren Standard in der Digitalisierung, der auch im Tagesgeschäft von mehreren Marktpartnern gleichzeitig anwendbar ist. Bisher sind die Systeme nicht kompatibel.

Der Handel ist mit 680'000 Mitarbeitenden der wichtigste private Arbeitgeber der Schweiz. Handel Schweiz ist der Dachverband des Handels, dem 33 Branchenverbände mit insgesamt 3’700 Unternehmen angehören. Handel Schweiz vertritt eine liberale Politik und setzt sich für eine starke Schweiz ein. Die KV-Branche Handel bildet 1‘400 Lehrlinge aus und ist damit eine der grössten und beliebtesten Ausbildungsbranchen. Insgesamt sind im Handel rund 24´000 Lernende tätig.​